Mittwoch, 9. März 2011

Dichtung und Wahrheit (2): Die Sache mit Goethe

So, ich hab's versprochen. Nun möchte ich auch zeitnah loslegen mit den angekündigten apokryphen Informationen.

Das Babylon-Virus
Achtung: Spoiler


1) Wir - die Leser und ich - erinnern uns an die etwas unappetitliche Szene, in der Amadeo Fanelli am Rande des Petzinsees im Trüben fischt und dabei dies und das zum Vorschein bringt (Getränkedose, gebrauchtes Kondom), nur nicht das gesuchte Depot des verblichenen Albert Einstein. Stattdessen erwähnen drei jugendliche Rabauken ganz nebenbei, dass der Bahndamm, zu dessen Füßen dottore Fanelli gerade im Schlamm wühlt, erst zu DDR-Zeiten gebaut wurde. (Die DDR wäre 'so was wie Krieg' gewesen, lässt einer der Jungs nebenbei fallen. Das Zitat ist natürlich bei Martin Sonneborn geklaut.)
Diese Erklärungen fallen in den Bereich Wahrheit. Der Bahndamm ist tatsächlich erst in DDR-Zeiten entstanden. Hintergrund war der Wunsch der Machthaber, in dieser Region eine Bahnlinie zur Verfügung zu haben, die nicht über West-Berliner Gebiet führte. Einige interessante Informationen dazu sind hier nachzulesen.

2) Schließlich - ich will den Hergang nicht zu ausführlich referieren. Das Buch lässt sich auf zwei Mal lesen. Lohnt sich, ehrlich ... Also, schließlich gelangt Amadeo letztendlich doch an die Hinterlassenschaften des Entdeckers der Relativitätstheorie, und siehe da: Am vermeintlichen Ende der Rätselfährte steht nichts anderes als ein neues Rätsel. Allerdings eines, das es in sich hat.
Nun habe ich lange hin und her überlegt, ob ich den geheimnisvollen Text des Johann Wolfgang von Goethe vollständig wiedergeben sollte oder nicht. Es ist mir nämlich gelungen, diesen Text vollständig zu, äh, rekonstruieren. Nein, um ehrlich zu sein: Selbstverständlich fallen alle im Buch eingestreuten Babylon-Überlieferungen in die Kategorie Dichtung. Das ändert allerdings nichts daran, dass Goethes Babylon-Text vollständig vorliegt, weit über die letztendlich im Roman eingestreuten Ausschnitte hinaus, auf die mehr oder minder zufällig dottore Fanellis oder Professor Helmbrechts Auge fällt. An dieser Stelle sei nun der Gesamttext erstmals der Öffentlichkeit zuständig gemacht. (Mein Rat: Der Leser stelle sich einen alten Herrn mit Schnapsnase und Nickelbrille vor, der die Worte etwas übertrieben deklamiert. Dann wird's noch eindrucksvoller):

Als der Menschen Schar dereinest
nach dem Osten auf sich machte,
wusst’ der Eine stets aufs Feinest,
was der And’re sprach und dachte.
Fröhlich im Vereine
rief man sich im Nu
hier das Allgemeine
stets im Urwort zu.

Auf, ihr Brüder,
brennt die Ziegel!
Brecht das Siegel
sterblich Lebens!
Uns’re Namen künden Lieder:
Krone allen ird’schen Strebens.

Ziegel wird aus Lehm gegossen,
Erdharz gründet fest die Mauern,
die zu Sinear entsprossen:
Bauwerk, ewiglich zu dauern.
Auf zum Himmelszelte!
Bunter Menschheit Schar
lockt der unverstellte
Ruhm gen Sinear.

Stein auf Steine,
Schicht auf Schichte,
hin zum Lichte,
aufwärts steige,
bis am End’ selbst Gott alleine
uns’rem Werk sein Haupte neige.

Da fährt Gott voll Zorn hernieder,
sieht der Menschen ruchlos Walten:
Stein auf Steine! Wieder! Wieder!
Nichts zwingt sie zum Innehalten.
Einig Sprach’ und Zungen,
einig Will’ und Wort.
Ist dies Werk gelungen,
dauert’s ewig fort.

Engel, eilet!
Dies zu enden
will ich senden
Pestilenzen.
Die ihr Krankheits Keim verteilet,
weiset mir dies Volk in Grenzen!

Menschen, die gleich Brüdern waren,
sieht man Zung’ und Sprach’ sich wirren.
Matt lässt’s Volk die Steine fahren,
um in fernste Land’ zu irren:
Dumpfer Wälder Hitze,
Nordlands eis’ge Luft.
Gottes Erben Sitze,
Gottes Sohnes kühle Gruft.

Süden, Norden,
Osten, Westen,
ziehn die Besten.
Bangheit steiget,
dass der grimme Gott mög’ morden,
was ihm Ehrfurcht nicht bezeiget.

Sieht voll Zweifel Gott ins Weite:
Die nach seinem Bild erschaffen’
und von seiner Seuch’ entzweite
Menschheit scheint’s dahinzuraffen.
Blickt von hoher Warte
auf sein Volk herab,
wägt mit sich im Rate
Für und Wider ab.

Engel, eilet
nun auf’s Neue,
die ihr Treue
habt geschworen!
Unter meinem Volk verteilet
Heilung, dass es nicht verloren!

So erreicht in letzter Stunde
der verstreuten Menschen Wohnung
ihrer Rettung frohe Kunde:
Gottes Gabe der Verschonung.
Doch nach kurzem Fristen
sorgt man sich um Trug
und entführt mit Listen
jener Heilung Krug.

Zu den Bergen
gegen Morgen
voll der Sorgen
durch die Pforte
zieh’n sie, winzigklein gleich Zwergen,
bergen ihn an diesem Orte.


Nun bin ich sicherlich der Letzte, der das beurteilen könnte, aber für mich persönlich rangiert dieses Poem recht weit oben unter denjenigen Goethe-Gedichten, die Goethe nicht geschrieben hat.

Und auf welchen Ort nun am Ende verwiesen wird ... Darüber weiß der Roman zu berichten, sowie - wer weiß - demnächst an dieser Stelle auch dieses Blog.

Unsere Reihe "Dichtung und Wahrheit" wird in jedem Fall fortgesetzt.

Bis dahin aber bleibe ich wiederum Ihr und Euer


Stephan M. Rother

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