Freitag, 31. Dezember 2010

Magischer Realismus

Joseph Ratzinger a.k.a. Benedikt XVI. bekannte vor einigen (wenigen) Jahren, keine Sekundärliteratur mehr zu lesen. Chuzpe?, habe ich mich stirnrunzelnd gefragt. Für seine Chuzpe ist er eigentlich nicht so mörderisch bekannt, der Ratzinger.
Das Seltsame ist, dass ich ihn zunehmend besser verstehe. In der Vorbereitung auf meine aktuelle Arbeit - die Halliggeschichte - habe ich etliche hundert Seiten Sekundärliteratur studiert. Und jetzt, da ich am Schreiben bin, stelle ich fest, dass sich das Wenigste davon mit meiner Geschichte verträgt. Nicht ganz einfach, alles auf einen Schlag wieder zu vergessen. Und sicherlich auch eine Vermessenheit: Vergessen als aktiver Vorgang ist uns (als Spezies) nun mal nicht gegeben. Das kriegt nicht mal Ratzinger hin.



Nein, ich glaube, dass die entscheidenden Impulse zu einer Geschichte aus vollständig anderen Quellen stammen. Das angelesene Wissen spielt kaum eine Rolle. Nicht für einen belletristischen Autor jedenfalls. Und an dieser Stelle gehe ich vollkommen konform mit Reich-Ranitzki und seiner Überzeugung, dass derjenige, der sich Sachinformationen über einen bestimmten Gegenstand, eine Zeitepoche usw. erhofft, doch bitte zum Sachbuch greifen möge. Das sollte ja tendenziell objektiver geschrieben sein - das Fachbuch schon sowieso. Ich bin Romanautor und schreibe per definitionem subjektiv. Der vorgebliche Gegenstand muss keineswegs der eigentliche Gegenstand sein. Angenommen, man gäbe Hohlbein, Fitzek, diesem Mann, der über die Himmelsscheibe von Nebra geschrieben hat, und mir dasselbe Konvolut an Sekundärliteratur in die Hand, sperrte uns in eine finstere Kammer und zwänge uns, z.B. einen Atlantis-Roman zu schreiben: Würde bei allen dasselbe rauskommen? Mit Sicherheit nicht. Wir hätten was falsch gemacht, wenn es so wäre, alle vier. Ein Leser, der zu einem Roman greift, kann etwas anderes erwarten. Ich behaupte: Er kann mehr erwarten. Die eigentliche Geschichte muss immer aus dem Autor selbst kommen. Es sind die Quellen in seinem Innern, Quellen, die von ganz individuellen Zuflüssen gespeist werden (und die er in vielen Fällen selbst nicht kennt, weil sich diese Zuflüsse dem menschlichen Auge entziehen), die eine Erzählung einzigartig machen.



Wenn der Leser also unter dem Weihnachtsbaum möglicherweise "Das Babylon-Virus" gefunden hat, gebe er sich nicht dem Glauben hin, er könne aus diesem Buch etwas über Einstein, Goethe, Händel, Friedrich II. von Hohenstaufen, über Alexander den Großen, Aristoteles - oder Gianna Nannini erfahren. Über den Turmbau zu Babel oder den ISAF-Einsatz in Afghanistan. All das spielt eine Rolle in diesem Roman - aber all das ist neu gruppiert, ist gespiegelt und gefärbt. All das ist eine neue, gemeinsame Geschichte. Sie wird nicht lügen über die angesprochenen Personen und Tatbestände - aber die eigentliche Wahrheit sagt sie nur über den Autor und die Dinge, die ihm wirklich am Herzen liegen.

Aktuelle Musik: Leonard Cohen - Live in London
Aktuelle Lektüre: Mark Helprin - Wintermärchen
Aktuelles Projekt: Rungholt

Und damit haben wir im alten Jahr doch noch etwas verraten :)



Unsere Illustrationen zeigen winterliche Ziele der vergangenen Wochen. Von oben nach unten:

1) St. Georg in Eutzen, ein kleines gotisches Kirchlein in einem Dörfchen nahe Wittingen. Das Gotteshaus hat kaum Kapellengröße - die Reformation hat es nur überlebt, weil es zu diesem Zeitpunkt nicht als Kapelle geführt wurde, sondern als mater combinata gemeinsam mit St. Katharinen in Knesebeck. Yep, da war Magister Wasmods Familie am Werk.
2) Die Mühlenkirche in Veltenhof (zu Braunschweig). Ich habe mir schon vorgenommen, dort noch einmal intensiver zu verweilen. Die Kälte hat mich weniger geschreckt, aber meine Frau, meine Eltern und mein Bruder saßen mit im Wagen.
3) und 4) Die ehemalige Klosterkirche Mariental bei Helmstedt - von Altenberg aus gegründet, das selbst direkt auf Morimond zurückgeht. Dort habe ich verweilt ... zum Runterkommen. Ich hatte Zweifel, ob die Rückfahrt angesichts der Straßenverhältnisse überhaupt durchzuhalten sein würde.



Wappnen wir uns gegen die Wahnsinnigen mit ihren Böllern und bringen wir die Silvesternacht mit Anstand hinter uns.

Bis zum nächsten Jahr bleibe ich Ihr und Euer

Stephan M. Rother

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