Donnerstag, 25. Dezember 2008

Wirklich fantastisch

Doch recht deultich, verehrte potentielle Leserschaft, sehe ich den einen Leser oder die andere Leserin dieses Blogs vor mir, der oder die beim Überfliegen der Einträge aus dem Kopfschütteln nicht mehr herauskommt: Ist ja alles ganz interessant, doch irgendwie auch verdammt abgespacet und abgehoben (oder "abgefahren"; der Dorian Grave sei "abgefahren", hab ich gerade gelesen) - warum schreibt ein Jugendbuchautor seltsame Sachen über Quellen, Besuche an Goethes Gruft und so ein küchenphilosophisches Zeug?

Ich glaube, ich erwähnte es an dieser Stelle bereits: Ich bin nicht Kai Meyer. Ich bin auch nicht Christoph Marzi (dessen Stil ich nach dem Wenigen, das ich von ihm gelesen habe, schätze), Thomas Finn oder Christoph Hardebusch - um einmal diejenigen zu nennen, die eigentlich unverdächtig sind. Der Leser wird wissen, wer an Autoren des fantastisch angehauchten Genres ebenfalls so ungefähr zu meiner Generation gehört. Viele dieser Autoren schreiben absolut spannende Sachen, doch ich habe den Eindruck, dass der Ansatz doch ein ganz anderer ist. Wir alle erzählen fantastische Geschichten, doch die Gründe, aus denen wir das tun, die sind zum Teil sehr unterschiedlich.

Vielleicht hängt er mit der Person von J.R.R. Tolkien zusammen, der als Pate des fantastischen Genres bis heute über der Szene schwebt. Tolkien hat sich vehement dagegen gewährt, seine Geschichten als Chiffren verstanden zu sehen, etwa den "Lord of the Rings" als Kommentar auf die klaustrophobische Situation der "Schlacht um England" in der ersten Hälfte der 1940er Jahre. Erstaunlich genug, denn gerade der akademische Mythen-Fachmann Tolkien hätte das Wesen der Sage besser verstehen müssen. Er hätte wissen müssen, dass die Sage immer vor allem auch eine Auskunft gibt über die Zeit und die Situation, in der sie erzählt wird. Und die fantastische Literatur erzählt ja nun einmal sehr vordergründig Sagen. Die Wirklichkeit ist für das Fantastische damit sogar sehr relevant. Finn hat das mit seinen Sagen-Updates auch gemerkt; das ist durchaus ein spannender Ansatz. Ich kann ihn nicht inhaltlich kommentieren, weil ich nichts davon gelesen habe.

Halten wir also fest: Die Wirklichkeit ist relevant für das Fantastische - wie ich es definiere. Phantastik ist nicht Weltflucht. Sie ist das Gegenteil. Sie ist Spiegelung. Sie ist wie ein Traum von der Wirklichkeit. Und es gibt ja nun sehr alte Traditionen, die in Träumen den einen oder anderen Fingerzeig unseres Unterbewusstseins vermuten. Begreifen wir die Fantastische Literatur also als unser kollektives Unterbewusstsein, als ein unglaubliches und unglaublich wertvolles Reservoir an Methaphern, das es uns ermöglicht, die wirklichen und wirklich relevanten Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Und genau deswegen wird sie selbst relevant.

Harter Tobak, verehrte potentielle Leserschaft, zum Jubeltag der heimischen Leitreligion? Wohl schon irgendwie. It’s ok to be different, to be apart. Es ist ok, wenn du anders bist und keiner dich will verstehen, sagt Stevie Styx in einer Schlüsselszene der Geschichte vom "Geheimnis des Dorian Grave". Wenn du erkennst, dass das ist ok – dann bist du erwachsen. Der Autor, wie es scheint, ist noch nicht ganz so weit.

Einen guten Rutsch ins kalendarische 2009 wünscht an dieser Stelle Ihr und Euer


Stephan M. Rother

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