Samstag, 28. Februar 2009

Verkalkung, abnehmend

Ein ereignisreicher Monat, verehrte potentielle Leserschaft, geht zu Ende. Von Imbolc an hat es dann doch noch ein Weilchen gedauert, bis der Frühling sich ein bisschen geregt hat. Nicht, dass ich besonders viel davon mitbekommen hätte. Freiräume, scheint mir manchmal, muss man sich nicht eigentlich nehmen. Freiräume müssen erkämpft werden. Erholung kann eine verdammt anstrengende Sache sein.



Ein bisschen was habe ich mir dennoch gegönnt von der Sache, doch dazu später mehr.

Ereignisreich, schrieb ich eingangs, und das war dieser Monat nun wirklich.

Der Mantel der Winde ist im Druck. Die Geschichte des Jungen Darek, dem es aufgetragen ist, die Menschen des Mittleren Reiches mit den vier Winden der Welt zu versöhnen, wird mit einem wunderschönen Cover und liebevolle Illustration von Anne Bernhardi überraschen. Erste Lesungen auf der Leipziger Buchmesse sind bereits vereinbart.

Das Hörbuch zu Das Geheimnis des Dorian Grave nimmt ebenfalls Formen an, und wenn diese Formen auch nur ansatzweise nach meinen Vorstellungen geraten, dann wird das ein wirklich ungewöhnliche multimediale Aktion, auf die ich Ungeheuer - sorry - ich ungeheuer gespannt bin.

Vergangene Woche haben mich aber vor allem die Fahnenkorrektur an der Letzten Offenbarung in Atem gehalten. Treue Blogleser erinnern sich: Das Machwerk, über das ich vor etwa einem Jahr so ausführlich berichtet habe, bevor dann auf einmal andere Projekte, speziell der Grave-Roman, in den Mittelpunkt rückten, die dann tatsächlich vorher das Licht der Welt erblickten. Die Offenbarung ist aktuell für den November zur Veröffentlichung vorgesehen (und wir damit der Erfahrung nach zur Frankfurter Buchmesse Mitte Oktober vorliegen). Gedruckt wird allerdings jetzt schon, um Buchhandel & Journaille seelisch darauf vorzubereiten, was im letzten Jahresquartal die globale Wirtschaftskrise von den Titelseiten verdrängen wird ;)

Das eigentlich kreative Projekt allerdings, an dem ich gegenwärtig sitze, ist nach wie vor die Dorian Grave-Fortsetzung, die inzwischen auf gut zweihundert Buchseiten angewachsen ist und sich in einer Weise verhält, dass Wolfram von Eschenbach seine reine Freude dran gehabt hätte:

ouch erkante ich nie sô wîsen man,
ern möhte gerne künde hân,
welher stiure disiu mære gernt
und waz si guoter lêre wernt.
dar an si nimmer des verzagent,
beidiu si vliehent unde jagent,
si entwîchent unde kêrent,
si lasternt unde êrent.


Oder, wie in der heutigen Zeit, die alles schneller auf den Punkt bringen möchte, Britney Spears formuliert:

Everything is still a blur.

Mit anderen Worten: Diese Geschichte ist ein scheues Wesen und schwer zu zähmen. Doch ich glaube, dass es eine gewaltige Geschichte ist, der ich momentan in mehrfach fingiertem Zangenangriff zu Leibe rücke, unter anderem durch die Lektüre der Mitschrift einer Vorlesung von Karl Rahner aus dem Jahre 1959 zur dogmatischen Anthropologie, intensiven Studien geologischer Kartenserver, Auffrischung meiner Kenntnisse zu Siger von Brabant und den Quaestionen Friedrichs II. und Besuchen an Orten, an denen das Unsichtbare sichtbar wird, eingeschlossen Begegnungen mit Fledermäusen (sicher) und einem Wolf (ziemlich sicher).



Die Bullenkuhle bei Bokel, ist nicht etwa das Freibad der örtlichen Polizeidienststelle, sondern ein Erdfall, wie er in der Norddeutschen Tiefebene hin und wieder begegnet. Norddeutschland ist bekanntlich im Wesentlichen durch eine große Ladung Schutt bedeckt - Überreste vergangener Eiszeiten. Unter diesem Schutt aber verbirgt sich sehr viel älteres Gestein und unter Anderem auch Salzstöcke. Wie jedem Hypertonie-Patienten bekannt sein dürfte, ist Salz wasserlöslich, dass es eine Freude ist. Folglich sind unterirdische Salzstöcke ständigen Auswaschungen unterworfen. Im eigentlichen Sinne ist es also nicht der Zahn der Zeit, der hier nagt, sondern deren Rachen, gurgelnderweise. (Liest sich eigentlich ganz knorke. Vielleicht findet das in irgendeiner Form den Weg ins Buch). Jedenfalls: Ist der Untergrund dann einmal verschwunden, hat die Erde einen spontanen Einfall - den Erdfall. Und ein solcher, für norddeutsche Verhältnisse recht klein dimensionierter, ist die Bullenkuhle. Einer der wenigen Orte in meiner näheren Umgebung, in der sich etwas Älteres, die eigentlichen Knochen der Erde, deutlich bemerkbar macht.

Diesen Ort habe ich vergangenes Wochenende aufgesucht. Ein einzigartiges Erlebnis. Die Wege waren noch gefroren - ich bin in Pfützen eingebrochen, habe mich rund um die Kuhle durchs Gesträuch geschlagen und auf dem Rückweg habe ich einen Wolf gesehen. Nein, es war kein Reh. Ein Reh erkenn ich grad noch, wenn ich eins seh. Es war kein Fuchs. Dazu war es zu groß. Und auch kein Golden Retriever. Immer noch zu groß. Auch kein Schäferhund - wieder zu groß, und vor allem zu scheu. Ein waagerechter Schatten, waagerecht samt Schwanz, der in Höhe des Gutshofs Günne aus den Bäumen hervorbrach, fünfzig Meter vor mir den Weg querte und im Dickicht verschwand. Ich war baff. Viel zu baff, um auch nur Angst zu haben. Mittlerweile weiß ich, dass das auch überflüssig ist, und das Tier hatte definitiv mehr Angst vor mir als ich vor ihm.



Wunderschön fand ich die Formulierung, mit der Herr Grüntjens von der örtlichen Jägerschaft meine etwas besorgten Nachfragen beantwortet hat:

Freuen Sie sich über die Anwesenheit und genießen Sie die Spaziergänge mit dem Wissen, ein hochintelligentes, scheues und vorsichtiges Tier in unserer Heimat gesehen zu haben.


Ich bin mir noch nicht ganz sicher, was diejenigen, die tatsächlich in engem Kontakt mit dem Wald und der Natur stehen, die Förster und Jäger, in ihrer Gesamtheit von meiner persönlichen Art der Wahrnehmung halten. Es sind dieselben Orte, und ich behaupte, es ist ein ähnliches Gefühl - doch eine ganz andere Perspektive. Mein Großvater hätte das ähnlich gesehen wie diese Frauen und Männer. Der lief mit der Wünschelrute umher - der Leser mag ihm in der Figur des "Meister Emil" im Adler der Frühe begegnen. Auf jeden Fall war dies eine Begegnung, von der ich glaube, dass sie ein Verständnis in mir geweckt hat. Eine Begegnung, die kaum zufällig gewesen sein kann. Dieses Verständnis ist wichtig. Ich muss nicht nur wissen, ich muss spüren, worüber ich schreibe.



Dennoch lässt sich an der Bullenkuhle das Ältere, Vorzeitliche nur mittelbar erfahren. Die Erde stürzt ein, bildet ein (nach Schätzungen) fünfzehn Meter tiefes, moor- und wassergefülltes Loch. Doch es gibt existieren einige wenige Orte in Norddeutschland, an denen die Knochen der Erde zu Tage treten, namentlich der Kalkberg in Lüneburg und sein Gegenstück, der Kalkberg in Bad Segeberg (bekannt durch die Karl May-Festspiele). Letzteren, in dem sich die nördlichste natürliche Höhle Deutschlands verbirgt, habe ich vergangene Woche aufgesucht. Die Höhle ist im Winter nicht zugänglich - dort halten gegenwärtig etwa 21.000 Fledermäuse ihren Winterschlaf. Aber schon die Ersteigung dieser uralten Gipsformation (der "Kalk" ist hier genauso wenig echter Kalk wie in Lüneburg) war eine aufregende Erfahrung, die ich in den kommenden Wochen noch zu vertiefen gedenke, etwa durch einen Besuch im Noctalis - dem Fledermausmuseum zu Füßen des Berges.



Wir leben in einer Welt, verehrte potentielle Leserschaft, die erfüllt ist von ihrer ganz eigenen Magie. Wenn auch nur ein Schimmer dieser Magie ihren Weg auf die Seiten meiner Bücher findet, dann hat es sich gelohnt.

So sie mögen - Sie werden es erlesen.

Für heute bleibe ich Ihr und Euer


Stephan M. Rother

Montag, 2. Februar 2009

Joh. 1,5

Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht begriffen.

Gestern - oder heute - oder vielleicht auch vorgestern - oder zum anstehenden Vollomond - oder erst zum "Valentinstag" moderner Zeitrechnung galt es ein altes Fest zu begehen, das wir je nach weltanschaulicher Couleur als Imbolc, Mariä Lichtmess/Mariä Reinigung oder Murmeltiertag/Groundhog Day benennen dürfen. Oder einfach Jochen. Niemand kann mir verbieten, ein altes kirchliches Fest Jochen zu nennen oder unseren Kaffeevollautomaten Eberhard.

Jedenfalls ist Imbolc ein altes Frühlingsfest. Eine populäre etymologische Erklärung besagt, dass sich die Frühlingslämmer zu diesem Zeitpunkt noch "im Balg" (i.e. "im Leibe") des Muttertiers befinden. Die christliche Bedeutung des Datums funktioniert noch einmal anders, über Maria und ihre "Unreinheit" bis vierzig Tage nach der Geburt des Kindes. Nach dieser Quarantaine wurde dann die "Reinigung" begangen, Mariae purificationis. Vielleicht gibt es da einen fernen Reflex bis hin zu unserem Frühjahrsputz. Jedenfalls ist Imbolc ein Frühlingsfest, wenn sich der Frühling zuverlässig erfahrbar einstweilen nur an der Tageslänge festmachen lässt.

Das Licht aber ist zurück und der erste große Schritt zum Frühling getan.



Irgendwie war es tatsächlich ein winter of our discontent diesmal, der ganz pünktlich zu einem anderen alten Jahresfest, Samhain/Allerheiligen-Allerseelen/Halloween einsetzte, im Anschluss an unseren Abschiedsauftritt nach fünfzehn Jahren auf der Bühne, an das öffentliche Versterben der Figur Magister Rother. Im Rückblick glaube ich, dass das eine unangemessene Frivolität war. Vielleicht war mir selbst die Nähe zu dieser Bühnenfigur nicht klar - doch vielleicht war es dann auch umso wichtiger, diesen ganz deutlichen Schnitt gemacht zu haben. Und die folgenden Wochen und Monate voller Variationen auf das Thema Du bist keine zwanzig mehr waren deutlich. Wir werden sehen, vielleicht habe ich ja gelernt.

Das Seltsame ist, dass ich im Grunde an die Worte vom Oktober/November anknüpfen könnte: Ich bin hindurch. Und zum ersten Mal seit einer ganzen Weile habe ich das Gefühl, dass das, was ich schreibe, wieder wirklich gut ist. Kein it says nothing to me about my life mehr. Ich lese viel über Gauss und Vermessungen und Friedrich II., Kantorowicz und den George-Kreis und seine Wirkung auf die Stauffenbergs. Diese Dinge sind enger verflochten, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, und es ist ... überraschend, aus welcher Inspiration Impulse entstehen können, in diesem Fall auf die Fortsetzung des
'Dorian Grave'
.

Die Winterstarre ist überwunden, das Lektorat für Der Mantel der Winde abgeschlossen, und das Jahresrad nimmt Fahrt auf.

Oder, wie mein lieber Sportlehrer zu sagen pflegte, wenn ich mir mal wieder übel den Schritt gequetscht hatte am Barren: Es wird, es wird!

Bis demnächst an dieser Stelle bleibe ich, verehrte potentielle Leserschaft, Ihr und Euer


Stephan M. Rother